strandgut
Sonntag, 13. April 2003
Handy-Manie

Manche Menschen haben den Sinn eines Handys, glaube ich, einfach noch nicht verstanden. Wahrscheinlich ist die Menschheit für ihre eigenen Erfindungen noch nicht reif genug. Verbringt man, so wie ich, viel Zeit in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Stadt Wien, so müsste man eigentlich zu dem selben Schluss kommen, wie meine Wenigkeit.
Unlängst saß in der Straßenbahn auf einem Platz gegenüber von mir, eine junge Frau, die, allem Anschein nach, zu viel Zeit und vor allem zu viel Geld zu besitzen schien.
Ihr Mund war zu einem, vor Heiserkeit bereits gebeutelten, "Sprachrohr" mutiert, aus welchem unaufhörlich, seit sie eingestiegen war, eine Folge scheinbar willkürlich aneinander gereihter wienerischer Sätze, Phrasen, Wörter, Silben und Buchstaben, nur unterbrochen durch ein gelegentliches Aufstoßen, hervorquollen und sich in das Mobiltelefon ergossen. Aus irgendeinem Grund begann ich, Mitgefühl für das verschwindend kleine, zarte NOKIA-Handy zu entwickeln, welches der Aufgabe, diese Flut an Lauten durch den Äther zu schicken, nicht gewachsen zu sein schien. Dermaßen aufgeregt und nervös gestikulierend und stotternd, hätte man meinen müssen, ein Notfall wäre eingetreten oder ein Psychopath mit Schlachtmesser wäre hinter der jungen Dame her, um ihr ein für alle Mal die Zunge herauszuschneiden.
Aber nein! Weit gefehlt! Denn, hat man sich einmal an die Ausdrucksweise dieses "verbalen Quasimodos" gewöhnt und auf ihren Schoß geblickt, so erkennt man doch tatsächlich, dass das Artikulationsgenie ihrer Freundin in der Straßenbahn hinter unserer, das Kronenzeitungs-Horoskop in den Bereichen "Beruf", "Gesundheit" und "Liebe" für alle zwölf Tierkreiszeichen vorträllert. Mit einem Mal wechselte mein Mitleidsgefühl, welches ich soeben noch für das 8310 empfunden hatte, seinen Empfänger und verlegte sich auf die armen, gequälten Fahrgäste der Straßenbahn 500 Meter weiter hinten.
Mein Buch, welches ich zu lesen pflegte, hatte ich längst vergessen und ich starrte nur noch auf die Wörter darin, ohne sie wirklich zu registrieren - Lesen ist in so einer Situation unmöglich! Ich beschloss, es einzupacken und mir Gedanken darüber zu machen, wie man dieses Erlebnis niederschreiben könnte.
Neun Stationen und gute zwanzig Minuten nachdem die Frau eingestiegen war, verließ sie den Waggon wieder und ging nach Hause - wahrscheinlich um aufs Festnetz umzusteigen! Der ganze Waggon atmete auf.
Mich jedenfalls, ließen die Wörterketten an diesem Abend lange nicht einschlafen: "…naoidabeimeinemhoroskop stehtüba hauptniewasgutesabadas wasdrinsteht wirdehoftnichtwahralsoiseseh schowuaschtabaesgibtjasoleutedieglaubenanalleswasdasodrin stehtindenhoroskopsabaich glaubjanedanalleswasdadrinisichglaubnurandie gutensachnundübahaupt…".

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